Andreas Wilhelm spielt Lego mit Molekülen: «Den Duft komponiere ich in meinem Kopf»

Der Zürcher Parfümeur hat ein absolutes Duftgedächtnis – was keine Überforderung darstellt. Dafür irritiert es ihn, wenn er einen Geruch nicht zuordnen kann.

Ein Parfum kreieren sei wie Wein machen. Mit diesen Worten erklärt Parfümeur Andreas Wilhelm in seinem noch eher kargen Labor in Zürich Binz, was er beruflich macht. Der 40-jährige Zürcher ist gross, hat dunkles Haar und trägt einen Dreitagebart. Er ist mit Poloshirt, karierter Stoffhose und roten Turnschuhen lässig gekleidet.

Die Freitagtasche auf dem Bürostuhl verrät seine Zürcher Herkunft. Wilhelm ist Raucher der Marke Marocaine. Das offenbart das Zigarettenpäckchen auf dem Labortisch. «Die meisten Menschen die mich treffen und bemerken, dass ich rauche, sind schockiert», unterbricht Wilhelm den Gedankengang. Anders als wohl die Allgemeinheit erwarten würde, tüftelt Wilhelm denn auch nicht stundenlang mit seinen über 1000 Essenzen, die in kleinen braunen Fläschchen fein säuberlich und alphabetisch im Regal an der Wand aufgereiht sind, herum.

Beim Betrachten der Fläschchenwand werden Erinnerungen an den Apotheker-Schrank wach. Mit Gerüchen verhält es sich ähnlich. Schliesslich sind sie es, die Erinnerungen an die Kindheit, an die Ferien am Meer oder den Schokoladenkuchen der Grossmutter, in unserem Gedächtnis abspeichern.

Das Zusammenmischen einer geruchlichen Erinnerung kostet Wilhelm wenige Minuten. «Den Duft komponiere ich vollständig in meinem Kopf», sagt der 40-Jährige. Seine Hauptarbeit – das Entwickeln einer Rezeptur – finde am Computer statt. Das Riechen kommt erst an zweiter Stelle, sozusagen als Kontrolle, ob das Ersonnene auch in der Flasche funktioniert.

So ist auch das erste komplett in der Schweiz hergestellte Parfum – eines für Frauen, eines für Männer – entstanden. Für Gisada hat Wilhelm fast drei Jahre lang am Duft gearbeitet, der vergangenen März in die Läden kam. Eine Aussage, die irritiert, wenn man bedenkt, wie schnell Wilhelm mischen kann. Warum es ungewöhnlich lange ging, erklärt der Parfümeur so: «Der Auftraggeber hinter Gisada wollte etwas Neues haben. Das hat mich unzählige Versuche gekostet, bevor der Duft eingeschlagen hat.»

Mit neu meint der Zürcher denn auch nicht, dass er ein neues Molekül oder eine neue Essenz entwickelt hat. Es gehe dabei viel mehr darum, was er wie zusammenmische. «Im Duftbereich kann man nichts Neues mehr erfinden», sagt Wilhelm nüchtern. Marken wie Lancôme, Chanel oder Hugo Boss, sie alle mischen immer wieder die gleichen Duftnoten zusammen, einfach mit einer anderen Rezeptur. Was für den Laien also neu riecht, ist für den Kenner lediglich eine prisenhafte Nuance.

Wenn eine Essenz geschmacklich nicht zum Fliegen kommt, wie es Wilhelm nennt, so wie anfänglich beim Gisada-Parfum, könne es eben auch mal länger dauern. «Die Moleküle die ich zusammen mische, müssen Freunde werden, sich verbinden und sich riechen lernen», so Wilhelm. Parfum verhalte sich ähnlich wie Wein: «Je länger es lagert, desto besser riecht es.»

Zur feinen Nase entwickelt

Der 40-jährige Synthesechemielaborant ist schon lange im Geschäft. Angefangen hat er als Laborant bei Givaudan, dem weltweit grössten Hersteller von Aromen und Düften. Dort hat er in der Parfümerie-Grundlagenforschung gearbeitet. In dieser Zeit hat sich in Wilhelms Gedächtnis ein Archiv von 10 000 Duftnoten gebildet.

Zum Parfümeur selber wurde der zweifache Vater im Zürcher Familienbetrieb Luzi AG ausgebildet. Seither baute Wilhelm die türkische Duftfirma Seluz auf. Nach wie vor entwickelt er für die Nummer zwei im türkischen Parfummarkt Düfte. Nicht nur Parfums gehören zu seinen Spezialitäten. Von Flüssigseife über Duftkerzen zu Räucherstäbchen oder auch Autodüften – Wilhelm komponiert Duftnoten jeglicher Art. Pro Rezept verdient der Mann mit Dreitagebart zwischen 3000 und 4000 Franken. Was er für das Gisada-Parfum erhalten hat und wie teuer die effektive Herstellung war, darüber bewahrt er jedoch Stillschweigen.

Alle seine bisherigen Laufbahnstationen hatten etwas gemein: Seine Kunden stammen mehrheitlich aus dem Mittleren Osten. So jettet Wilhelm regelmässig zwischen Saudi-Arabien, Oman oder der Türkei hin und her. «Der Mittlere Osten hat einen anderen Umgang mit Düften als Europa», sagt er. Während der Schweizer zwar interessiert, aber sparsam und skeptisch ist im Umgang mit Parfum, werden im arabischen Raum Gewänder oder sogar ganze Kleiderschränke mit Düften besprüht oder Räume laufend mit Räucherstäbchen parfümiert.

«Der Duft eines arabischen Mannes sagt etwas über seinen Status aus», so Wilhelm. Damit ist klar, warum der Parfümeur den arabischen Raum als Massenmarkt für Parfümerie, die Schweiz dagegen als Nische bezeichnet. Nicht nur der Parfummarkt hierzulande sei überschaubar. So verhält es sich auch mit dem Berufsstand des Parfümeurs. «Industrielle Parfümeure gibt es wohl knapp 20 in der Schweiz. Einen unabhängigen wie mich jedoch nur einmal», sagt Wilhelm selbstbewusst, ohne dabei arrogant zu wirken.

Während er das sagt, holt er aus seinem Büro drei dunkle, leicht kalkige Steine. Sie liegen leicht in der Hand, der Magen wird jedoch schwer, als Wilhelm sagt: «Das ist Erbrochenes vom Wal.» Riecht man daran, schmeckt man zuerst nichts, ausser vielleicht einer holzigen Note. Beim zweiten und dritten Mal schnuppern entfaltet sich in der Nase etwas leicht säuerliches, schweisseliges, gar etwas verwesendes. Wie Wilhelm erklärt, ist diese Nuance in fast jedem Duft im arabischen Raum enthalten.

«Diese kleine Klumpen sind teurer als Gold. Hunde werden eigens dafür dressiert, sie am Strand in Irland oder sonst wo auf der Welt aufzuspüren», erklärt Wilhelm die Suche nach Rohstoffen. «Jedes Parfum hat einen Haken – also etwas Unangenehmes, das den Duft spannend macht. Und zwar so, dass man sich über Jahre hinweg daran erinnert.» Damit legitimiert der Zürcher die Faszination der Araber für Walkotze und das deutlich wohlriechendere Agarholz. Eine weitere beliebte Nuance im arabischen Raum.

Bei Unbekanntem irritiert

Damit Nuancen überhaupt zur Geltung kommen, erklärt er, während zumindest gedanklich noch der Duft des Wales im Raum schwebt, dass man Düfte nicht wie ein schnaubendes Ross, sondern schnuppernd auseinander seziert. Während Wilhelm das Vorgehen demonstriert, erinnert er nun tatsächlich an einen Sommelier, der einen Wein verkostet, einfach mit tastenden Nasenflügeln.

Ahmt man das Schnuppern nach, breiten sich im Kopf schlagartig Nebelschwaden aus. Leichter Schwindel ist zu verspüren. Wilhelm entpuppt sich als wacher Beobachter: «Am Anfang meiner Lehre hatte ich jeden Abend Kopfschmerzen. Das ständige Schnuppern an alkoholhaltigen Düften macht betrunken.» Zumindest so ähnlich. Mit der Zeit sei es jedoch besser geworden. «Aber vielleicht haben deshalb viele Parfümeure einen Hang zum Alkoholismus.»

Trotz dem absoluten Duftgedächtnis fühlt sich Wilhelm nie von seiner geruchlichen Umwelt überfordert. Denn, so seine Worte: «Ich rieche auf eine fast perverse Art.» Irritiert ist er nur dann, wenn er einen Geruch nicht zuordnen kann. Es hat den Zürcher einige Zeit gekostet, herauszufinden, was das für Gerüche sind. Mittlerweile weiss er: Es sind Medikamente, die die Körperchemie verändern können.

Auch erschienen auf www.limmattalerzeitung.ch und der 12-App am 25. Juni 2017.